Ungeboren hab' ich mein Leben bejaht!

 

 
 

 

 

 
 

Ehe ich in dieses Erdenleben trat

ward mir gezeigt, wie ich es leben würde.

Da war die Kümmernis, da war der Gram,

da war das Elend und die Leidensbürde,

da war das Laster, das mich packen sollte,

da war der Irrtum, der gefangen nahm –

Da war der schnelle Zorn, in dem ich grollte,

da waren Hass und Hochmut, Stolz und Scham.

 

 
     
 

Doch sah ich auch die Freuden jener Tage,

die voller Licht und schöner Träume sind –

Wo Klage nicht mehr ist, und nicht mehr Plage,

und übervoll der Quell der Gaben rinnt,

wo Liebe dem, der noch im Stoff gebunden,

die Seligkeit des Losgelöstseins schenkt –

Wo sich der Mensch, der Menschenpein entwunden,

als Auserwählter hoher Geister denkt....

 

 
     
 

Mir ward gezeigt das Schlechte und das Gute,

mir ward gezeigt die Fülle meiner Mängel,

mir ward gezeigt die Wunde, daraus ich blute,

mir ward gezeigt die Hilfe der Engel...

 

Und als ich so mein künftig Leben schaute

Da hört‘ ich ein Wesen die Frage tun,

ob ich wohl dieses Leben mich getraute

denn der Entscheidung Stunde schlüge nun...

 

 
 

Und ich ermass noch einmal alles Schlimme –

"Das ist das Leben, das ich leben will"

gab ich zur Antwort mit entschloss‘ner Stimme

und nahm auf mich mein neues Schicksal still...

 

So ward geboren ich in diese Welt,

so war’s, als ich in’s neue Leben trat –

Ich will nicht klagen, wenn’s oft mir nicht gefällt,

denn ungeboren hab‘ ich mein Leben bejaht!

 
 
     
 

Hermann Hesse

 
     
 

 

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