Die Wundertropfen

 

 

Wie mächtige Riesen stehen sie da, die alten Waldbäume und breiten ihre grünen Zweige wie Schirme aus.

        So undurchdringlich das Dach aber auch scheinen mag, es ist doch nie so dicht, dass nicht hie und da ein Sonnenstrahl und ein kleines Stückchen Himmelsblau durchschimmert. Wie herrlich ist dieses Blau und das frische Grün vor allem im Frühling, schon in Waldesnähe spürt man die Frische und  fühlt den würzigen Hauch - wie geht einem da das Herz auf.

        In der Nähe des Waldes treiben Feen, Elfen, Gnome und all die anderen Naturgeister ihre Spässe. Weiter weg vom Wald wagen sie sich selten.

 

 
 

 

 
 

        Je weiter der Wald weg ist um so mehr verwandelt sich das herrliche Azur des Himmels in eine grau-grüne Dunstglocke, ringsumher ein Hämmern und Hetzen, Dröhnen und Brausen und die grosse Stadt beginnt. Brütende Hitze steht in den Strassen und die Sonne gleisst. Dumpf und schwül die Luft, dass man kaum atmen kann. Dumpf und schwer liegt es auch auf der Brust der Menschen, die schon fast vergessen haben, dass irgendwo da draussen noch eine Natur ist, mit würziger, kühler Luft.

        In einem hohen Haus ist ein Fenster geöffnet, um etwas Luft ins Zimmer zu lassen. Dort in jenem Zimmer liegt ein junges Menschenkind im Krankenbett. Die Augen die sonst so fröhlich in die Welt blickten geschlossen, und die Locken an der schweissfeuchten, heissen Stirn verklebt. Still und regungslos liegt er da, der arme kleine Junge, zu schwach auch nur die Augen zu öffnen.

 

 
 

 

 
   

        Anfangs kam der Arzt, ein weiser alter Mann jeden Tag, untersuchte ihn und gab ihm bittere Tränklein, aber der Knabe wurde immer schwächer und der Arzt kam immer seltener, bis er eines Tages der Mutter sagte, er könne nicht mehr helfen.

    Dann kam ein anderer Arzt, der sollte viel klüger sein. Er sagte die Krankheit sitze im Herzen und Ruhe wäre wichtig. Aber das Bübchen wurde nicht gesund.

        Durch das offene Fenster vernahm der Knabe ab und zu aus der Ferne das Singen eines Buchfinken und sein Gesicht erhellte sich für einen kurzen Augenblick. Ach wie schön, meinte er, müsste es doch im Wald sein.

        Wann immer Christian verzagen wollte, sprach ihm seine Mutter Mut und Hoffnung zu und auch seine Schwester Margrit war ihm Trost und Sonnenschein. Mit munterem Geplauder suchte sie sein Trübsal zu vertreiben.

        Da hatte sie eines Nachts einen seltsamen Traum:

Sie sass im Walde unter einem grossen Baum und ein kleiner sonderlicher Mann mit langem, weissem Bart sprach zu ihr: "Kind, ich kenne deinen Gram. Nimm die Tropfen und gib sie deinem Bruder." Und weg war der Kleine.

 

 
 

 

 
 

       Von diesem Augenblick an mochte Margrit nicht mehr ruhen und dachte viel an den Zwerg - aber wo sollte sie ihn finden? Als der Waldzwerg ihr aber ein zweites und gar drittes mal im Traum erschien, machte sich das Schwesterlein auf den Weg und bald hatte sie die Stadt hinter sich gelassen. Vom weiten, ungewohnten Gehen wurde sie müde und legte sich am Wegesrand in eine Wiese. Wie wundersam erschien ihr die Welt mit einem Mal. Der Himmel in leuchtendem Blau und die Bäume mit sattem Grün. Hunderte von Blumen rings um sie auf der Wiese und unzählige kleine Tierchen. Der Gesang der Waldvögel schien ihr tausend mal fröhlicher als derjenige der Stadtvögel.

        Frisch und munter setzte sie ihre Wanderung fort. Nach vielen  Stunden  des  Marsches erreichte sie endlich ihr Ziel. Geheimnisvoll rauschten die Bäume, Bienen und Käfer summten und brummten und die Vögel sangen traumhaft. Müde setzte sich das Mädchen unter eine alte Eiche, wo es alsbald einschlief und träumte. Der Traum war so lustig, dass es anfing zu lachen und wieder aufwachte. Da stand vor ihm das Männlein und sah das Kind mit verschmitzten Augen an.

        Der Zwerg nahm das Kind bei der Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Erdburg der Zwerge und Elfen. Nach geraumer Zeit kamen sie vor einer Grotte an. Dies war der Eingang zum Zwergenreich. Margrit fühlte wie sie immer kleiner wurde bis sie zuletzt nur noch so gross war wie der Zwerg.

 

 
 

 

 
 

       Gemeinsam stiegen sie ein lange Treppe tief hinunter ins Erdreich bis sie zu einem grossen Torbogen kamen. Als sie eingetreten waren, konnte sich das Mädchen kaum satt sehen. Die Wände waren mit bunten Edelsteinen belegt, die Säulen aus kostbarem Marmor gearbeitet. Die Decke aber war aus purem Gold und Diamant.

             Im schönsten der Säle thronte der Zwergenkönig, umgeben von zahlreichen Gnomen, Elfen und Feen. Er winkte Margrit freundlich zu, hiess sie Platz zu nehmen und klatschte in die Hände. Hurtig brachten einige Zwerge goldene Schüsseln mit Nüssen und Früchten und Kristallschalen mit köstlichen Getränken. Als das Kind sich gestärkt hatte, zeigte ihr der König sein Reich. 

       Zuerst kamen sie in einen Saal in dem alle Blumen, Kräuter, Moose, Gräser und Triebe der Bäume aufgehäuft waren. Zudem frische duftende Walderde, Erde aus Ameisenhaufen und modrige Blätter und Baumstämme, dazu Krüge voll mit Wasser aus klaren Waldseen und Bächen und ganz kleine Krügchen mit Tautropfen. Alles war ordentlich mit Zetteln versehen.

        Im zweiten Saal waren zahlreiche Zwerge damit beschäftigt, auf grossen Feuern in blitzblanken Kesseln heilsame Tränkchen zu brauen und sie in glitzernde Kristallgläschen zu füllen die danach fest verschlossen wurden.

       Im dritten Saal waren in den Felswänden unzählige Gelasse eingehauen und jedes mit einem Türchen versehen, worauf ebenso viele Krankheiten standen. In jedem Gelass war das Fläschchen mit dem Heilmittel gegen eben jene Krankheit. Der König selber machte sich daran, aus einem Fläschchen in eine winzige Viole einige Tropfen abzufüllen. Er wollte die Viole eben Margrit überreichen, als er merkte, dass er seine Krone vergessen hatte. So flog schnell eine Elfe sie zu holen. Der König setzte sich die Krone selber auf und sprach feierlich: "Nimm dies und bewahr es gut auf. Gib deinem Bruder an drei Tagen je einen Tropf auf das Haupt und er wird bald gesund sein."

 

 
 

 

 
 

        Margrit weinte vor Freude und bedankte sich herzlichst bei dem Zwergenkönig. Und eh sich das Kind versah, war es wieder zu Hause bei seinem Bruder. Christian wollte nicht recht an die Tropfen glauben, aber als seine Schwester die Viole öffnete, breitete sich der Duft von Walderde und Tannennadeln im ganzen Zimmer aus, so dass sie dachten, sie wären mitten im Forst. Schon am nächsten Morgen konnte Christian aufstehen und einige Tage später ging er mit seiner Schwester in den Wald.

        Sie suchten und suchten, aber das Felsentor konnten sie nicht mehr finden. Die restlichen Tropfen, welche Margrit noch hatte verteilte sie unter den Kranken und Leidenden und immer halfen sie. Als aber der letzte Tropf aufgebraucht war, erzählte sie wie sie zu diesen gekommen war. Manche Kranken die noch selber gehen konnten machten sich auf in den Wald und verbrachten viele Stunden damit, den Eingang zum Zwergenreich zu finden. Wenn sie aber müde nach Hause zurückkehrten, merkten sie, das wohl die Zwerge heimlich von ihren Tropfen in ihr Herz geträufelt hatten und sie fühlten sich alsbald wieder gesund.

        Christian war ein grosser und starker junger Mann geworden und sein liebster Ort war der Wald geworden. Selbst als alter Mann suchte er immer noch nach dem Tor zum Zwergenreich. Aber sein sehnlichster Wunsch einmal die Zwerge zu treffen blieb unerfüllt.

 
 
 
 
 
 
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